Trotz eines deutlichen Anstiegs des Frauenanteils in der Erwerbsbevölkerung in den letzten Jahrzehnten sind Frauen in den obersten Führungsebenen – sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik – weiterhin stark unterrepräsentiert. In den USA etwa stellten Frauen 2012 nur 3,8 % der CEOs in Fortune-500-Unternehmen und weniger als 20 % der Sitze im US-Kongress. Ähnliche Muster finden sich auch international. Traditionell werden Führungsrollen mit männlich stereotypisierten Eigenschaften wie Durchsetzungsfähigkeit, Unabhängigkeit und Dominanz verbunden. Studien und Medienberichte der letzten Jahre haben jedoch die These eines „weiblichen Führungsvorteils“ diskutiert, gestützt auf die Annahme, dass kooperative, teamorientierte und kommunikative Führungsstile in modernen Organisationen erfolgreicher sein könnten. Die wissenschaftliche Literatur ist hier gespalten: Während manche Befunde Männer im Vorteil sehen, betonen andere mögliche Stärken von Frauen. Kritiker warnen vor vereinfachenden Aussagen und fordern eine differenzierte Betrachtung, die Kontextfaktoren einbezieht.
Diesem Thema widmete sich eine im Jahr 2014 im Journal of Applied Psychology von Paustin-Underdahl et al. (https://doi.org/10.1037/a0036751) veröffentlichte Meta-Analyse, die hier vorgestellt wird:
Das zentrale theoretische Fundament bildet die Role Congruity Theory (RCT), die besagt, dass Vorurteile entstehen, wenn Geschlechterrollen und die Anforderungen von Führungsrollen als unvereinbar wahrgenommen werden. Daraus leiten die Autoren folgende Hypothesen ab:
Für die Meta-Analyse wurden 270 potenzielle Publikationen aus dem Zeitraum 1962 bis 2011 gesichtet, von denen 95 Studien mit 99 unabhängigen Stichproben die Einschlusskriterien erfüllten. Die Datengrundlage umfasste 58 veröffentlichte Zeitschriftenartikel, 30 unveröffentlichte Dissertationen/Thesen, 5 Buchkapitel und 6 weitere Quellen (z. B. White Papers, unveröffentlichte Datensätze). Der überwiegende Teil (86 %) stammt aus den USA und Kanada; einige Studien aus Europa und anderen Regionen wurden einbezogen, sofern sie die Kriterien erfüllten.
Eingeschlossen wurden Studien, die männliche und weibliche Führungskräfte in ihrer Effektivität verglichen, wobei die Bewertung durch verschiedene Quellen (Selbst, Vorgesetzte, Kollegen, Untergebene) erfolgte. Es wurden sowohl Laborexperimente als auch Feldstudien in unterschiedlichen Organisationsarten und Hierarchieebenen berücksichtigt. Die Effektgrößen wurden standardisiert und auf Messfehler korrigiert. Moderatoranalysen untersuchten den Einfluss der oben genannten Kontextvariablen.
Stichprobengröße: von sehr kleinen Laborgruppen (n = 10) bis zu großen organisationalen Datensätzen (n > 60.000); im Mittel rund 1.011 Führungskräfte pro Stichprobe. Teilnehmer: Führungskräfte mindestens im Alter von 18 Jahren, darunter männliche und weibliche Führungspersonen in Positionen wie Supervisor, Manager, Direktor, Schulleiter, Administrator.
Bewertungsquellen: Selbsteinschätzungen, Fremdbewertungen durch Vorgesetzte, Kolleginnen, Untergebene, geschulte Beobachterinnen, objektive Kennzahlen (z. B. Leistungsmetriken).
Messkriterien: Wahrgenommene Effektivität (z. B. Führungsleistung, Zufriedenheit mit der Führungskraft, beobachtetes Verhalten) oder objektive Leistungsergebnisse.
Analyseverfahren: Effektgrößen wurden als standardisierte Mittelwertdifferenzen (Cohen’s d) berechnet, auf Messfehler korrigiert und nach dem Inversvarianzverfahren gewichtet. Moderatoranalysen (kategorial und regressionsbasiert) prüften die Hypothesen.
Über alle Kontexte hinweg ergab sich kein signifikanter Unterschied in der wahrgenommenen Führungseffektivität zwischen Männern und Frauen (d = −0,05, nicht signifikant). Bezogen auf die oben genannten Kontextvariablen stellten die Autoren fest:
Die Ergebnisse widerlegen die Annahme eines durchgängigen männlichen oder weiblichen Führungsvorteils. Vielmehr bestimmen Kontextvariablen, ob und wie Geschlechterunterschiede in der wahrgenommenen Führungseffektivität auftreten. Die RCT wird bestätigt, jedoch um die Erkenntnis erweitert, dass auch Männer in bestimmten „feminin“ geprägten Rollen als weniger passend gelten können. Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdbewertungen verdeutlichen zudem, dass Selbstwahrnehmung und externe Einschätzung nicht deckungsgleich sind.
Es existiert kein einheitlicher Geschlechtereffekt auf die wahrgenommene Führungseffektivität. Unterschiede sind kontextabhängig und werden durch die Quelle der Bewertung, die Art der Organisation, die Hierarchieebene und weitere Faktoren beeinflusst. Die Forschung sollte künftig verstärkt die Interaktion dieser Variablen untersuchen.
Organisationen sollten sich der Tatsache bewusst sein, dass Beurteilungen von Führungskräften stark durch unbewusste geschlechtsbezogene Stereotype und durch die Bewertungsquelle geprägt werden. Bei Personalentscheidungen und Leistungsbeurteilungen ist es wichtig, Bewertungsverfahren so zu gestalten, dass kontextabhängige Verzerrungen minimiert werden. Dies kann die Förderung von Frauen in männlich dominierten Bereichen ebenso einschließen wie die Unterstützung von Männern in weiblich dominierten Führungsumfeldern. Eine ausgewogene Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven (Selbst- und Fremdbewertung) kann zu faireren und objektiveren Einschätzungen führen.
Intensivseminar Führungskompetenzen
Interpersonal Skill LAB Basic
Intensivseminar Krankenhausleitung für Ärztliche DIrektor:innen und Chefärzt:innen
Prof. Dr. med. Andreas Becker
Prof. Dr. med. Andreas Becker ist ausgewiesener Experte für Medizinmanagement und Patientensicherheit. Er berät Einrichtungen im Gesundheitswesen und ist Honorarprofessor für Patientensicherheit an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen. Fast 15 Jahre war er Geschäftsführer des größten deutschen trägerübergreifenden Krankenhausverbundes.
Ein weiterer Schwerpunkt seiner Tätigkeit sind Beratung und Training zu Überfachlichen Kompetenzen und Human Factors in unterschiedlichen Branchen und Unternehmensbereichen. Dabei setzt er seine Qualifikationen und Erfahrungen aus Medizin und Luftfahrt (Human Factors Trainer nach Joint Aviation Requirements und EU OPS) ein.
Prof. Becker ist auch öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Qualitäts-, Informationssicherheits- und Risikomanagement in Krankenhäusern und medizinischen Laboratorien, Autor zahlreicher Fachartikel und Buchbeiträge.